Klangsteinentwicklung
Tönende Stille – Zu den Steinen von Elmar Daucher
Text: Matthias Bärmann, Dezember 1986
In: Elmar Daucher · Klangsteine, Verlag Galerie Tschudi, CH-8750 Glarus
Auf dem Stuttgarter Karlsplatz, beim Alten Schloss, steht das Mahnmal für die
Opfer des Faschismus, das Elmar Daucher 1970 geschaffen hat. Vier gewaltige
kubische Steine, Kantenlänge etwa zwei Meter, anthrazitgrauer Granit aus
Brasilien. Die Kantenlinien zeigen Spuren von Bearbeitung, sind gebrochen,
glänzen wie abgegriffen. Sie verlaufen auch nicht exakt gerade, zahlreiche
Kerben, Schrunden, Verletzungen geben Zeugnis von der brutalen Gewalt, mit
der diese Steine aus dem anstehenden Gestein herausgesprengt wurden.
Auch die Würfelfl.chen, leicht und unregelmässig reliefiert, die Oberfläche
narbig, mit bräunlichen Verfärbungen, Verbrennungen, Pulververschmauchungen
verbergen ihre Versehrungen nicht. Bei ihrer Bearbeitung beschränkte Daucher sich
bewusst darauf, bereits vorgegebene Stein- und Sprengungsstrukturen deutlich,
„lesbar“, zu machen. Drei der Kuben stehen derart einander zugewandt, dass in
der Mitte dieser Formation ein knapper Raum freigelassen wird, eine Art enger
Kammer entsteht, zugänglich nur durch schmale Zwischenräume zwischen den
Steinen. Wie Gänge führen die Seitenflächen der Würfel ins Innere, in den umstellten
Raum. Der vierte Kubus aber ist wie von oben auf die Dreiergruppe herab-, in sie
hineingestürzt. Mit einer seiner Ecken nach unten, im Lotrechten seiner Raumdiagonale,
hängt der Stein über und zwischen den anderen, sein Gewicht von ungefähr dreissig Tonnen
ist auf drei Auflagepunkte von jeweils nur Quadratzentimetergrösse verteilt. Wer sich nun
zwischen den Massen der drei ruhenden Steine hindurchgezwängt hat ins Innere, der muss
sich jetzt noch beugen unter die Sturzbahn jenes vierten Steins, der mit jedem einzelnen
seiner Moleküle elementar hinab will. Die ganze massige Räumlichkeit des Monuments
konzentriert sich als Last in dem beklemmend engen Innenraum, drückt nach unten. Dort
kommt der Text von Ernst Bloch in den Blick, den Daucher mit dem Presslufthammer der
Oberfläche eines in den Boden eingelassenen Granitquaders eingeschrieben, die Schrift
anschliessend mit Blei ausgegossen hat: „1933-1945 / verfemt, verstossen, gemartert, erschlagen,
erhängt vergast. / Millionen Opfer / der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft /beschwören Dich: / niemals wieder!“
Mit dem an Lapidarheit kaum noch zu überbietenden Stuttgarter Mahnmal bildet Daucher
das Phänomen Faschismus nicht mimetisch ab, stellt nichts dar, sondern realisiert vielmehr
im Granit unmittelbar die Bedrückung, die Bedrohtheit, die fortwährende Gefahr selbst. Der
gewaltige obere Steinkubus, mit seiner zernarbten Oberfläche ganz offenkundig ja selbst ein
Gezeichneter, gibt die ihm angetane Gewalt weiter an jeden, der unter ihn tritt. Seine
Sturzbewegung ist erstarrt, kann sich nicht lösen in die Vollendung des Falls, bleibt in dieser
Starre eben auch steril. Stumme, lastende Granitwürfel, gleichsam gefrorene Bewegung:
Steine des Todes – ihre Schatten wandern mit dem Sonnengang um das Mahnmal. Hier wird
nicht verdrängt, nicht vorschnell Versöhnung an die Stelle der Trauer gesetzt, hier wird der
Nullpunkt der Hoffnungslosigkeit aufgesucht, um kommender Hoffnung und Versöhnung
allererst Raum zu schaffen. Dies ist nicht einfach Negation, vielmehr Privation, Beklagen des
Fehlens dessen, was das Ersehnte, Notwendige, Rettende ist. Aushalten des Schrecklichen –
auch so etwas wie ein Advent.
Neben dem für das Schaffen von Elmar Daucher wichtigen Datum des Jahres 1970 mit dem
Entstehen des Stuttgarter Mahnmals lassen es zwei weitere Ereignisse in diesen Jahren als
gerechtfertigt erscheinen, den Zeitraum Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre als
für den Fortgang seines Schaffens bedeutend zu betrachten: 1968 – bis dahin hatte er in
Stuttgart gelebt – verliess er die Grossstadt und liess sich im ländlichen Oberschwaben nieder,
wo er noch heute in seinem schönen Holzhaus etwas ausserhalb des Dorfes Oggelshausen
wohnt und arbeitet, direkt am breiten Schilfgürtel des Federsees; und sechs Jahre später, 1974,
entstand die erste jener Stein- Skulpturen, mit denen der Name Daucher fortan verbunden ist,
der erste Klangstein.
Klangsteine, das sind dunkelgrüne Serpentine, schwarze Granite von einfacher, geometrisch
strenger Gestalt, in die tief mit der Diamantsäge eingegriffen wurde und die mit den Händen
durch Anschlagen oder Reiben zum Tönen gebracht werden können. Verschiedene Grundformen
werden in Reihen von Variationen durchgespielt: schlanke, aufgerichtete Stelen; flache,
horizontal gelagerte, kammähnliche, auch ovale Formen; Kuben. In ihrer Grösse sind sie alle
deutlich auf den menschlichen Körper bezogen, die Kantenlänge der kleinsten Steine beträgt
etwa eine Handspanne, die grossen Stelen haben etwas mehr als Körpergrösse.
Auch was die Führung der Schnitte in den Stein anbelangt, werden verschiedene Prinzipien
durch-variiert: parallel oder sich kreuzweise überschneidend, vertikal oder horizontal, in
gleichmässigen oder differierenden Abständen, rechtwinklig zur Oberfläche ansetzend oder
schräg geführt. Auf solche Weise werden die strengen Formen der Steine aufgegliedert, dünne Steinlamellen beziehungsweise kantige Steinstäbe verschiedener Dimensionierung treten
hervor, je nachdem, in welchem Modus, wie tief und in welchen Abständen die Schnitte
ausgeführt wurden. Eine weitere Möglichkeit des Variierens zeigt sich schliesslich, besonders
hinsichtlich der kubischen Formen, in der Gestaltung der Flächen: diese können gleichmässig
plan oder leicht gewellt angelegt, an der oberen Würfelfläche mitunter auch von rhythmischen
Folgen von Einmuldungen strukturiert sein. Die Steinflächen sind zumeist poliert, seltener, so
bei einigen der neuesten Arbeiten, partiell roh belassen.
Betrachtet man vergleichend hierzu frühere Skulpturen von Daucher, so fällt auch da schon
die Tendenz zur Aufschliessung des Steins, zum Vordringen in den Stein, zum Herausarbeiten
von Binnenformen im Stein auf; ebenso zeigen sich bereits sehr bald rhythmisch-serielle
Strukturierungen der Oberflächen mittels feiner Rippenstrukturen und Reihungen kleiner
Einschnitte, die später dann, bei den Klangsteinen, entschieden vertieft werden und dadurch
eine neue Qualität gewinnen. Die Klangsteine sind also durchaus kein Bruch in der Entfaltung
seines bildhauerischen Werks, sondern eine Zusammenfassung und konsequente Weiterführung
des ursprünglichen Konzepts, erweitert freilich um die Dimension Klang – Wandlung und
Identität. In vielen der früheren Skulpturen ist Klang gleichsam latent vorhanden, verborgen,
optisch und haptisch jedoch schon ahnbar. Gestalt, Struktur, Material, das Spiel der polierten
Oberflächen mit dem Licht, Klang, dies alles sind mannigfaltige, dabei insgeheim identische
Aspekte der Skulptur – man sieht, was man fühlt, was man hört. Dabei entstehen auch später,
neben den Klangsteinen, immer wieder einzelne Skulpturen, bei denen Daucher den Klang
bewusst wieder in den Stein zurückgenommen beziehungsweise ihn allein durch die nur haptisch
und optisch erfahrbare Gestaltung der Oberfläche, also im rein akustischen Sinne nicht hörbar,
realisiert hat. Der Klang der Steine: ein Phänomen, das im Tönen der Klangsteine freilich hörbar
ist, zuvor und zugleich aber auch das Sehen und das Fühlen betrifft. Klang als eine die Sinne
möglichst umfassende, als Einheit ansprechende Bewegung. Es geht, das sei jetzt schon festgehalten,
gegen die Alleinherrschaft des Auges im Reich der Raumwahrnehmung, wie sie sich im Laufe
der Neuzeit herausgebildet und verfestigt hat und in deren Endstadium wir uns heute zu befinden scheinen, es geht, wie der Philosoph Ulrich Sonnemann es formuliert hat, ganz entschieden „um
das dezentral befreite Verhältnis aller menschlichen Sinne, mit dem Erkenntnis beginnt.“
„Durch Klangerzeugung entsteht Bewegung. Bewegung ist Leben.“ Dieser Hinweis von
Elmar Daucher kann bei der weiteren Annäherung an die Klangsteine als Leitgedanke dienen. Stellvertretend für andere soll der Klangstein 3/86 stehen, die Ziffernkombination weist diese
Skulptur als die dritte 1986 entstandene aus. Der Stein hat kubische Gestalt, die Kantenlänge
beträgt einen Meter, das Material ist schwarzer schwedischer Granit, der in dieser Größe nur
sehr selten gebrochen werden kann. Mit der Gestalt des Würfels knüpft Daucher wiederum an
frühere Skulpturen an, etwa an zwei Altarentwürfe aus den Jahren 1974 und 1976, aber auch an die Elemente des Stuttgarter Mahnmals. Im Unterschied zu diesem sind die Würfelchen dieses Kubus gleichmäßig stark poliert, und schon dadurch steht der Stein in einem innigeren Bezug zu seiner Umgebung, nimmt, je nachdem, ob er sich in einem Innenraum befindet oder draußen im Freien, in
seiner schwarzen, spiegelnden Transparenz in einem Fall die Strukturen einer Architektur, im
anderen Fall Sonnenlicht, Wolken, die Zweige eines Baumes auf, die sich im Wind bewegen. Zwei Schnittfolgen von je neun Einschnitten, die sich überkreuzen, strukturieren und rhythmisieren die Skulptur. Die Schnitte erfolgen von außen nach innen zu in immer kleineren Abständen, genau im
gleichen Maß nimmt entsprechend auch die Schnitttiefe von außen nach innen ab. So entsteht ein geometrisch strenges System von kantigen Granitsäulen verschiedener Höhe und verschiedenen, teils quadratischen, teils rechteckigen Querschnitts, das sich an der Oberfläche des Kubus als ein nach
innen immer feingliedriger werdendes Gitternetz abzeichnet. Die Ordnung dieses Systems definiert
sich nach harmonikalen, im Ursprung also pythagoräischen Proportionsgesetzen, indem ein Modul, ein Grundmaß also als 1 / 1 gesetzt wird, das dann aufgefächert wird, etwa in 1 / 2 , 1 / 3 , 1 / 4 usw. Die überaus einfache, statische Würfelform erfährt dadurch eine Dynamisierung, eine Bewegung, die nach außen ins unendlich Große, nach innen ins unendlich Kleine tendiert. Gebändigt wird diese prinzipiell unendliche mathematische Reihe nun durch die Materie, durch eben jenen Kubikmeter schwarzen Granits, dem sie gliedernd eingeschrieben ist und der ihr gleichzeitig Gestalt gibt, sie materialisiert. Mathematisches Kalkül und Materie, unauflöslich ineinander gefügt: eingebettet in den Kubus ist eine Form, die „nicht Wand und Hülle (ist), sondern der Rhythmus, in dem das Begrenzende zum Aufschließenden wird“ (Martin Heidegger). Zu solchem Wechselspiel von Geschlossenheit und Offenheit kommt es auch, wenn man sich um diese Skulptur herumbewegt, sie umschreitet und dabei
der Blick unter wechselndem Blickwinkel verschieden tief in den Stein eindringt: in einer „Einheit von Wahrnehmung und Bewegung“ (Victor von Weizsäcker) ineinandergleitend Stein und Leere. Bereits in
der Annäherung an den Stein zeigt sich somit eine Form von Bewegung, die sich gänzlich unterscheidet von dem, was wir gemeinhin heute unter Bewegung verstehen, nämlich Raumüberwindung. Hier aber
wird Raum nicht überwunden, Raum entsteht vielmehr erst aus der Bewegung, die um die Skulptur herumführt und bezogen ist auf den ruhenden Stein und dessen rhythmische Strukturen.
Ganz entfaltet werden Raum und Bewegung indes erst im Klingen des Klangsteins. Dieser
kann durch Anschlagen mit der Hand zum Klingen gebracht werden, seine größte
Energieentfaltung erreicht er aber, wenn man die obere Fläche des Steinkubus mit Wasser
benetzt und behutsam mit der Hand darüberstreicht: dreieinhalb Tonnen Granit beben,
pulsieren, raunen, vibrieren – es tönt das mathematisch-geistige Gesetz, und es tönt die
Materie Stein, im allgemeinen ja Metapher für das Stumme schlechthin. Dieses Tönen ist
schwer zu beschreiben und auch kaum vergleichbar, am ehesten mag man noch an den
Obertongesang von tibetanischen Mönchen denken. Die Schwingungen des Steins – in
Tonhöhe beziehungsweise -tiefe verschieden, je nach Dimensionierung des in Schwingung
versetzten Steinsegments – ,hervorgebracht durch die sanfteste Bewegung, können sich dabei
mitunter zu einer Intensität steigern, die vom Hören her, aber auch mit dem ganzen Körper,
schon beinahe nicht mehr zu ertragen ist. Im Tönen baut sich Raum auf, nun nicht mehr optisch,
sondern haptisch, vor allem aber akustisch, überhaupt körperlich erfahrbar. Voraussetzung ist
allerdings, dass man sich mit dem Rhythmus seiner Streichbewegungen mit der Hand einpendeln
lässt in die Schwingungsbeschaffenheit des Steins, der sehr deutlich seine eigenen Frequenzen,
quasi seinen eigenen Puls hat, der durch gegenläufiges Streichen gestört, die Klangentfaltung damit verhindert wird. Man berührt – und wird im gleichen Zuge berührt. Die schmerzliche Spaltung
zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Bewusstsein und Welt schließt sich, Selbsterfahrung undWelterfahrung verschränken sich ineinander, werden eins. Keine Subjekt- Herrschaft, aber
auch keine einseitige Aufgabe des Subjekts: liebende Erkenntnis, liebende Erfahrung, Ganzheit
von Leiblichkeit und Geistigkeit. „So reicht sich eines dem anderen hinüber, eines überlässt sich dem anderen, und jegliches bleibt so es selber“ (Martin Heidegger). Joseph Beuys, der sich selbst
durchaus als Bildhauer, als Plastiker verstand, postulierte: „Das Ohr ein Wahrnehmungsorgan
für Plastik“ (Hervorhebung von Beuys). Der tönende Klangstein nun, man hört: der Steinklang
kommt aus dem Dunkeln des Steins, aus der Stille. Der Klang ist eine Bewegung, die aus der
Stille anklingt und wieder in die Stille verklingt. Zwischen Anklingen und Verklingen öffnet
sich und tönt der Klang-Raum: nicht sichtbar, statisch, homogen, berechenbar, vielmehr
hör- und spürbar, bewegt, zeitlich, vergänglich. Er entsteht und vergeht, der Klang-Raum ist
ein Zeit-Raum. (Eine Raum-Zeit-Struktur übrigens, wie sie sich nach Erkenntnissen des
Ethnologen E.S. Carpenter konstitutionell bei den Eskimovölkern findet: „dynamischer
Raum, der immer wieder, je nach akustischer Wahrnehmung, entsteht und vergeht“.)
Hinsichtlich der Klangsteine würde die Systemtheorie den Stein als anorganisches und damit „geschlossenes“, in sich ruhendes System nahe der Totenstarre der absoluten Stabilität,
den Klang aber als Bewegung, als Öffnung des Steins, die Vergänglichkeit des Klangs schließlich
als „Instabilität“ beschreiben. Instabilität aber, so verstanden, „ist der Schlüssel zum Leben,
zur Transformation“ (Kurt Hoffman in Anlehnung an die Theorie der „dissipativen Strukturen“
des Chemie-Nobelpreisträgers Ilya Prigogine).
Wir erinnern uns: „Klangerzeugung ist Bewegung. Bewegung ist Leben.“ Der tönende
Klangstein ermöglicht die umfassende, geistige wie körperliche Erfahrung, dass Klang und
Stille, Raum und Leere, Vergänglichkeit und Zeitlosigkeit unauflöslich ineinanderspielen,
dass sie ihr je Eigenes erlangen, indem sie sich im jeweils anderen gleichsam „vergessen“
können. Dieses Vergessen ist die Einheit des Antinomischen. In der Kunst Ostasiens gibt es
hierfür eine knappe, paradoxe Wendung: „donnerndes Schweigen“. Erschließung eines Raumes,
der er-hört, mit dem Ohr wahrgenommen werden kann (wohl schwerlich aus Zufall sitzt das Organ
des menschlichen Raumorientierungssinnes, das sogenannte „Labyrinth“, im Innenohr);
Erschließung eines bewegten Raumes, der als Zeit-Raum Zeit plastisch erfahrbar werden lässt;
wesentliche Einbeziehung des Menschen in die Skulptur (denn vollkommen entfaltet sich der
Klangstein erst im Tönen, also im Zusammen von Stein-und-Mensch, Mensch-und-Stein) und
dabei der Durchbruch zu einer Wahrnehmungsstruktur, die Gegensätze nicht eliminiert, sondern
sie in ihrem Aufeinanderbezogensein sinnlich umfassend erfahrbar macht, gerade ohne sie
dialektisch „aufzuheben“: Das sind die Momente, die vor allem die Bedeutung von Elmar Dauchers Schaffen ausmachen und seinem Werk einen sehr besonderen Rang im Kontext zeitgenössischer
Steinbildhauerei einräumen. Im Unterschied zu allen anderen, dem Verfasser bekannten Konzepten
von Klangplastik, bei denen der Klang entweder ein sekundäres, unverbunden quasi „neben“ den
anderen plastischen Eigenschaften bestehendes Phänomen ist, oder alle Parameter einer Plastik
wie bei einem Instrument funktional der Erzielung des Klangergebnisses vor- und untergeordnet sind, treten bei den Klangsteinen Material, Struktur, Klang, Raum- und Zeitkonstituierung bei größter Einfachheit und Strenge der Gestalt gleichbedeutend zusammen, gehen organisch auseinander
hervor, sind zwar verschiedene Aspekte, in denen jedoch, wie gezeigt, die Einheit der Skulptur spielt.
Wie es der Anteil, den Mathematik und Geometrie am Werk Dauchers haben, kaum anders
erwarten lässt, gibt es, bei allen großen, auch wesentlichen Unterschieden, Berührungspunkte
mit konstruktivistischen Plastikkonzeptionen, vor allem hinsichtlich der auch dort vorrangigen Thematisierung von Raum, Leere, Bewegung und Zeit. So forderte Naum Gabo eine „größere
Beteiligung des Raumes“ an der plastischen Struktur, sprach Antoine Pevsner von der Luft, der
Leere als „integrierendem Bestandteil des Werks“, postulierte Nicolas Schaeffer „die konstruktive
und dynamische Integration des Raums in das plastische Werk“ (unter besonderer Berücksichtigung
des Rhythmus), bekannte Norbert Kricke den Bezug von „Bewegung und Raum“ als sein
Hauptanliegen und formulierte schließlich Isamu Noguchi: „Bewegung, Licht und Zeit sind
Eigenschaften des Raums.“ Minimal Art kommt in den Blick, mit dem intendierten
dynamisierten Bezug des Betrachters zum Objekt, mit additiven und seriellen Strukturen,
mit Stereometrie und modularen Texturen als tragenden Parameter etwa der Skulpturen von
Sol Le Witt (der sich auch gern, wie Walter de Maria, des Kubus bedient), mit der zusätzlichen Akzentuierung des „Leib-Bewusstseins“ im Werk Eva Hesses und der geforderten leiblichen
wie seelischen Selbsterfahrung in den „Korridoren“ Bruce Naumanns.
In einem ganz wesentlichen Punkt allerdings setzt sich das Werk Elmar Dauchers bewusst
vor allem gegenüber aller Konstruktivismus-Programmatik ab: Daucher beschreitet nicht
den Weg fortgesetzter Entmaterialisierung. Dem steht schon seine von den Schriften
des Philosophen und harmonikalen Grundlagenforschers Hans Kayser vermittelte
Beschäftigung mit dem Pythagoräismus entgegen. Die pythagoräisch-harmonikale Tradition
artikulierte sich in der abendländischen Geschichte, oft allerdings als Gegenund Unterströmung,
in Philosophie, Musik, Mathematik ebenso wie in Architektur (Vitruv, Alberti) und Astronomie (Ptolemaios, Kepler), tritt aber auch in neuesten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen
wieder hervor. Diese Tradition beschreibt eine harmonische Struktur des Kosmos, eine
Harmonie indes, die sich bändigend, nicht aber eliminierend auf ihr Entgegengesetztes,
das Chaos, bezieht. Der Zusammenhang aller Dinge untereinander sowie der Bezug des
Einzelnen zum Ganzen drückt sich durch Proportionen aus, die sich vollkommen gleichwertig
musikalisch wie mathematisch äußern, sich der Erkenntnis mithin ebenso wie der sinnlichen
Erfahrung erschließen, und zwar in einem Zug: die Saite eines Monochords, in einem
ganzzahligen Verhältnis unterteilt und zum Schwingen gebracht, offenbart das mathematische
Gesetz als Zahlenrelation und das klingende Intervall. Beide Seiten sind Aspekte des einen
Phänomens Kosmos; Zahl und Ton, Kalkül und Materie, Geistiges und Sinnliches, Quantität
und Qualität erweisen sich als Einheit. Diese Einheit entsteht in den Klangsteinen durch die
Verletzung des Steins, durch das Einschneiden der rhythmischen Strukturen in den Stein.
Materie, gezeichnet, stigmatisiert von solchen abstrakt mathematischen Mustern, dies weist
nun allerdings weit hinter den griechisch-pythagoräischen Bezugspunkt in vormythische,
vorgeschichtliche Zeit zurück. Als erste uns bekannte Manifestation künstlerischen Tuns
dürfen etwa fünfunddreißig tausend Jahrealte abstrakte, rhythmische Reihungen von Kerben
und Einritzungen in Steinen und Knochen gelten. Ihr Zweck scheint nicht über sie hinauszuweisen,
nichts zu bezeichnen, sondern im Zeichen selbst zu liegen: ritueller Vollzug von Zeit im Rhythmus
durch regelmäßige, wiederholte Markierungen, Verletzungen – denn nur so überhaupt entsteht
Ordnung. Serielle, rhythmische Strukturen „erschaffen die Erfahrung der Zeit“ (Dietmar Kamper):
Dauchers Eingriff in den Stein mittels computergesteuerter Diamantsägen, modernster Technologie
des zwanzigsten Jahrhunderts mithin, berührt sich unversehens mit dem Ursprung der Kunst.
Handeln, auch künstlerisches Handeln, heißt immer auch: verletzen. Vielleicht aber unterscheidet
sich der Künstler in seinem Eingreifen in die Materie doch wesentlich dadurch von dem
erdzerstörenden Zugriff des neuzeitlichen technisch-naturwissenschaftlichen Komplexes,
dass er sich das Leiden an seinem Tun erhalten hat. Indem er sich der Verletzung des Naturstoffs
bewusst ist als Verletzung, erhält sein Handeln, künstlerisches Handeln sein Maß. Das sukzessive Abhandenkommen jenes Maßes im Zuge einer langen jüdisch-christlich-europäischen Geschichte
führt in letzter Konsequenz zur Ausbeutung und Zerstörung unserer Lebenswelt. Dem setzt Elmar Daucher seine Steine entgegen: die schwingende Materie der Klangsteine, die stummen, lastenden
Steine des Mahnmals.
Dezember 1986
Matthias Bärmann